Beitrag 1011

1. Phase: 1011

HUPE FLATAU Partner, Hamburg
Verfasser:in: Tim Hupe
Mitarbeiter:in: Margarita Shchigoleva, Ruth Maria Weber, Asli Bilge Kocak, Florian Meinefeld, Faisal Safaruddin, Henri Sebgo

Landschaftsarchitektur Rainer Ernst, Frankfurt a. M.
Verfasser:in: Rainer Ernst
Mitarbeiter:in:

Audio Erläuterung des Entwurfes

 

Vollbildgalerie (Link)

Erläuterungstext der Verfasser:innen

Kessel und Landschaft

Wie bei jedem Multifunktionsstadion – so gilt es auch hier in Berlin – die teilweise divergierenden Interessen des Fußball- und des Leichtathletikbetriebes miteinander in Einklang zu bringen.

In einem Fußballspiel folgen 22 Spieler und 20.000 Zuschauer 2x 45 Minuten konzentriert dem Ball und den unmittelbaren Geschehen um ihn herum. Eine sehr konzentrierte fast introvertierte Situation in der die „Außenwelt“ nahezu ausgeblendet wird. Lediglich die Bilder der Fernsehkameras berichten vom Geschehen im „Kessel“. Ein Leichtathletikstadion ist die Bühne einer vollkommen anderen Inszenierung und Choreografie. Sportliche Ereignisse in einem Leichtathletikstadion sind oft nur von sehr kurzer Dauer, wie z.B. ein 100 m-Lauf.

Während der Wettkämpfe gibt es für die Zuschauer immer wieder Gelegenheiten den Blick in die Umgebung schweifen zu lassen oder sogar Ihre Sitze zu verlassen, um sich im oder auch außerhalb des Stadions zu bewegen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich auf dem Gelände andere Sportstätten befinden, an denen zeitgleich weitere Wettkämpfe stattfinden. Ein herausragendes Beispiel für diese Art von „Sportlandschaft“ ist sicher das von Günter Behnisch entworfene Münchner Stadion für die olympischen Spiele von 1972.

Orientierung und Position des neuen Stadions

Das einschlägige Regelwerk für jede Art von Stadion macht für die Ausrichtungen Vorgaben, die durch den Lauf der Sonne bestimmt sind. Grundlage ist, dass statistisch gesehen, die Spiele vor allem am Nachmittag und in den Abendstunden stattfinden und die Sonne am südwestlichen bis westlichen Himmel steht. Die Haupttribünen mit ihren besonderen Sitzen für VIP’s, Funktionäre und der Presse, vor allem aber auch den Spielerbänken und den Fernsehkameras, muss diese Nachmittagssonne im Rücken haben um das sportliche Geschehen bestmöglich verfolgen zu können.

Die Ausrichtung des heutigen Stadions trifft den theoretischen Idealwinkel dieser Ausrichtung nicht ganz liegt jedoch sehr nah dran.  Wesentlich ist jedoch, dass die Haupttribüne auf der Westseite liegen muss. Auch muss mit Bedauern konstatiert werden, dass die vorhandene Osttribüne mit ihrer Geschichte der DDR-Moderne, ihrer einprägsamen Form und hohem Identifikationspotential einer nachhaltigen und barrierefreien Entwicklung von Stadion und Park im Weg stehen würde.

Um die Flächen in der kompakten Organisation des Sportparks bestmöglich zu nutzen und der Geometrie des Gesamtanlage gerecht zu werden, liegt das neue Stadion mit möglichst geringen Abweichungen am exakt gleichen Ort wie das bestehende Stadion. Nicht zuletzt werden auf diese Weise auch die Anpassungen der Topografie, der Eingriff in den vorhandenen Baumbestand und die damit verbundenen Kosten und energieaufwendigen Erdverschiebungen auf ein Minimum begrenzt. Damit das Stadionumfeld ausreichend dimensioniert werden kann, sind die im Entwurf angedachten zusätzlichen Funktionen wie Tennis- und Beachvolleyball zwischen Stadion und Max- Schmeling-Halle anderweitig verortet.

Erschließung und Organisation

Der vorhandene Typ eines sogenannten Wallstadions erscheint vor den Hintergrund der Zuschauerzahlen von 20.000 sinnvoll. Auf der Krone dieses Walls liegt ein geräumiger Umgang. Alle Zuschauer gelangen von diesem Umgang – also von oben – auf die Tribüne. Auf den Umgang führt zum einen die bereits heute vorhandene Topografie mit Ihrem höchsten Punkt im Westen und Norden. Dieses wird ergänzt durch ein System von Rampen welche den barrierefreien Zugang aber auch Fluchtweg für alle Zuschauergruppen in alle 4 Sektoren gewährleistet. So wird dem Gebot der Inklusion im neuen Stadion ideal und auf einfache Weise Rechnung getragen.

Die Haupttribüne liegt aus den zuvor beschriebenen Gründen nun im Westen.

Eine umlaufende Stadionumfahrt für die Feuerwehr aber auch für die Mannschaftsbusse sowie Fahrzeugen von berechtigten Personen führt vor die Vorfahrt der Haupttribüne. Der Abstand zwischen Haupttribüne und der historischen Hinterlandmauer beträgt 11 m.

Während die Logen auf der Höhe des umlaufenden Walls liegen, sind die weiteren Funktionen der Haupttribüne – der VIP-, Spieler- und Pressebereich – in das Gelände eingeschnitten und liegen auf zwei Ebenen verteilt und somit klassischerweise unterhalb der Haupttribüne. Die Bereiche werden von der Stadionumfahrt über Treppen und Aufzügen erschlossen. Der Spieler- und Pressebereich hat direkten Zugang zum Spielfeld bzw. auf die Pressetribüne. Der darüber liegende VIP Bereich erhält eine Terrasse mit Blick über das Stadion. Darüber liegen die Logen mit jeweils vorgelagerten Sitzplätzen.

Der Aushub für die Herstellung der zwei Geschosse unter der Haupttribünen wird verwendet, um den Wall auf der Ostseite des neuen Stadions zu ergänzen.

Auf der Ostseite wird der vorhandene Tribünenbau abgebrochen und als weiteres Füllmaterial für den Wall verwendet.

Von der Ostseite gelangt man über zwei Stadionzufahrten zu dessen Bewirtschaftung auf das Infield. Der wesentliche Teil der Lager und Technikflächen werden direkt über diese beiden Zufahrten erschlossen. Polizei und Sanitätsbereich liegen im Südosten unmittelbar in der Nähe des Hauptzugang des Jahnparks und haben über einen Aufzug eine direkte Anbindung zur Leitzentrale des Stadions auf der Südostseite des Umgangs.

Auf dem Umgang sind neben ausreichen Bewegungsfläche für alle Zuschauer Kioske, Sanitäts- und Versorgungsstützpunkte sowie 209 Rollstuhlplätze angeordnet. Diese sind sektorenweise organisiert. Um die Fläche des Umgangs nicht unnötig aufzublähen sind die WCs für den überwiegenden Teil der Zuschauer unter den Kiosken angeordnet und über kurze Treppen erreichbar, während die WCs für mobilitätseingeschränkte Zuschauer gut auffindbar direkt in Tribünennähe auf dem Umgang angeordnet sind. Für diese  Zuschauergruppe sind die Sitzplätze direkt vom Umgang erreichbar und geometrisch so organisiert, dass eine optimale Sicht auf das Spielfeld gewährleistet ist, auch wenn auf den davor liegenden Sitzreihen die Zuschauer aufspringen und Ihre Arme in die Höhe recken.

Das Dach

Von einem Ring zentraler Wandscheiben, die am hinteren Rand der Tribüne tiefgegründet sind, spannen zwei Teile des Daches, wie die Flügel eines Vogels gleichermaßen über die Tribüne und den Umgang. Die Druckzone der Kragkonstruktionen wird als gewölbtes Flächentragwerk aus diagonalverlegten Brettschichtholzbinder ausgebildet. Die diagonale Verlegeweise dieses Rostes sorgt für eine gute Horizontalsteifigkeit der Konstruktion.  Darüber verbinden horizontale Zugglieder aus Stahl die Spitzen der beiden Flügel. Um der Konstruktion ausreichende Festigkeit für die verschiedenen Lastfälle zu verleihen – insbesondere Winddruck und -sog – sind die Obergurte fachwerkartig gegen die hölzernen Druckgewölbe ausgesteift.

Über dem längeren Kragarm auf der Tribünenseite ist die Deckung des Daches leicht, aus weißer PTFE- Folie ausgebildet. Zusätzliche Auflasten würde hier die Konstruktion beschweren und unnötig Material verbrauchen. Hingegen liegt über dem Umgang eine Dachfläche, welche auf eine Trapezblechdeckung eine Gründach mit Photovoltaikelementen ausbildet. Dieser Aufbau bildet neben seinen klimatischen Vorzügen das „Gegengewicht“ zur größeren Auskragung über der Tribüne.

Der Vorteil des offenen Holzrostes auf der Unterseite der beiden Dachteile ist unter anderem, das weite Teile der erforderlichen Technik wie Beleuchtung und Beschallung im Zwischenraum von Holzrost und Dachdeckung angeordnet werden können, sodass eine weitestgehend ruhige und geschlossen wirkenden Deckenuntersicht aus Holzbinder entsteht, während gleichzeitig das Tageslicht von oben durch die Folie und den Holzrost fällt und die Tribüne erhellt, ohne dabei zu blenden.

Der vordere Rand des Daches über der Tribüne wird transparent in Polycarbonatplatten eingedeckt, um den Übergang zwischen Sonne und dem Schatten, welcher das Dach auf das Infield wirft, weicher zu gestallten. Dieses verbessert die Sichtbedingungen für Zuschauer, Spieler und Fernsehkameras zusätzlich.

Um die Blendung von Spieler, Athleten, Zuschauen aber auch Fernsehkameras zu verhindern muss die Flutlichtanlage zwangläufig in einer gewissen Höhe über dem Spielfeld angeordnet werden. So sehen es auch die einschlägigen Regelwerke vor.

Die Höhe des Daches liegt bei einem Stadion für 20.000 Zuschauer deutlich unter dieser erforderlichen Höhe. Die Überdachung aller Zuschauerplätz hat zur Folge, dass das Licht freistehender Flutlichtmasten wie im heutigen Stadion harte Schatten im Infield und auf dem Spielfeld wirft, welche die Sichtbedingungen erheblich beeinträchtigen.

Unser Entwurf sieht daher einen Ring kurzer Masten am vorderen Rand des Tribünendaches vor, wie dies z.B. bei Stadion Letzigrund in Zürich ausgeführt wurde. Um allen Zuschauern den Blick auf die LED – Anzeigen zu ermöglichen sind zwei Tafeln erforderlich. Die könnten jeweils Nord-Süd, also direkt hinter den Toren unterhalb des Daches angeordnet werden. Damit aber die Bilder über die Längsachsen des Stadions nicht zu sehr von diesen Anzeigen dominiert werden schlagen wir vor die Anzeigen über die Diagonale Nordost- Südwest zu positionieren.

Stadion und Sportpark

„Der Mensch ist dem Menschen das interessanteste …“ (J.W. Goethe)

Das neue Stadion wird integrativer Teil der Sportlandschaft im Jahn Sport Park. Das leichte Dach und der offene Umgang sorgen für einen fließenden Übergang zwischen Stadion und den umgebenden Räumen des Sportparks der Inklusion.

Der begrünte Wall mit seinen barrierefreien Rampenanlagen und Sitzgelegenheiten ist Teil der Landschaft sowie Bühne und Tribüne zugleich. Hier erleben sich die Fans und Zuschauer des Stadions als Gemeinschaft, so wie die Foyers der großen Theater und Opernhäuser – wie z.B. der Garnier Oper in Paris – ist der begrünte Wall der Ort des Sehens und Gesehen-Werdens.

Der Wall ist nicht mehr Rückseite des Stadioninneren, sondern eine zusätzliche Vorderseite des Sportparks. Vom Umgang und dem begrünten Wall hat man einen Blick über den Sportpark mit der Nachmittgassonne im Rücken. Hier trifft und begegnet sich die Sportwelt und ihre Anhänger im Herzen Berlins.

 


Vorheriger Beitrag